Hieroglyphen: Heilige Schriftzeichen

Hieroglyphen: Heilige Schriftzeichen
Hieroglyphen: Heilige Schriftzeichen
 
Man schrieb das Jahr 1799, als sich Napoleon I. mit mehr als 30 000 Soldaten zu einem Ägyptenfeldzug einschiffte. An Bord der großen Flotte waren auch 175 Ingenieure und Gelehrte, die das Land erschließen und eine Bestandsaufnahme der ägyptischen Altertümer vornehmen sollten. Die wesentlichste Entdeckung der ganzen Expedition blieb dann allerdings einem Soldaten vorbehalten: Er fand noch im gleichen Jahr einen Inschriftenstein, der als »Stein von Rosette« in die Geschichte einging. Darauf ist in drei verschiedenen Schriften - in Hieroglyphen sowie dem später in Ägypten gebräuchlichen Demotisch und Griechisch - ein Dekret aus aus dem Jahr 196 v. Chr. eingemeißelt. Mit diesem Drei-Schriften-Stein hatte man endlich den Schlüssel zur Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen. 1822 gelang es dem Franzosen Jean François Champollion, mithilfe des griechischen Textes das Rätsel der Hieroglyphenschrift zu lösen.
 
Die auffallendste Eigenschaft der Hieroglyphenschrift gegenüber allen anderen Schriften ist ihre realistische Bildhaftigkeit. Dabei ist sie keine Bilderschrift, denn Bilderschriften können nur Inhalte, Begriffe, Dinge wiedergeben, aber keinen Wortlaut. Die Hieroglyphenschrift ist jedoch eine Wortlautschrift. Sie verbindet die Merkmale einer Laut- und einer Sinnschrift.
 
Man unterscheidet drei Zeichenfunktionen: Phonogramme (Lautzeichen), Determinative (Sinnzeichen) und Ideogramme (Wortzeichen). An Phonogrammen kennt die Hieroglyphenschrift Ein-, Zwei- und Dreikonsonantenzeichen. Vokale werden nicht geschrieben. Ideogramme (Wortzeichen) beziehen sich auf das Wort, dessen Bedeutung sie darstellen. Determinative bezeichnen Sinnklassen (so stehen zum Beispiel ein sitzender Mann oder eine sitzende Frau hinter Wörtern, die Personen benennen). Oft erfüllt ein und dasselbe Zeichen mehrere Funktionen. Das Zeichen der Sonne schreibt als Ideogramm das Wort R`w (Ri`aw) (= »Sonne«) und bezeichnet als Determinativ Zeitbegriffe, das Zeichen des Beinpaares schreibt das Wort nmtt (= »Schritt«) und determiniert Verben der Bewegung. Die Zeichen können für die dargestellten Dinge, aber auch für gleich ausgesprochene Wörter stehen. So schreibt das Zeichen »Haus« als Ideogramm das Wort pr (= »Haus«), als Zweikonsonantenzeichen das Verb pr(j) (= »herausgehen«); ferner determiniert es Raumbegriffe. Die Determinative ermöglichen der Hieroglyphenschrift Begriffsbildungen, die über den Wortbestand der Sprache hinausgehen. So determiniert zum Beispiel das Zeichen des Krokodils bestimmte Eigenschaften, die die ägyptische Tierkunde diesem Tier zuschrieb, wie hnt(= »Gier«), 3d (= »Aggressivität«), `wn-jb (= »Habgier«), und bezeichnet daher deren Oberbegriff, für den es zwar ein Zeichen, aber kein Wort gibt (etwa »Krokodilhaftigkeit«). Ebensowenig gibt es Worte für »Zeit«, »Raum«, »Bewegung« usw. Determinative beziehen sich daher großenteils auf ein Abstraktionsniveau der Begriffsbildung, das nur in der Schrift, nicht aber in der Sprache ausgedrückt werden kann. Die Schrift geht also nicht völlig in der Wiedergabe von Sprache auf. Es gibt einen gewissen Bedeutungsüberschuss der Schrift gegenüber der Sprache, der für die Hieroglyphenschrift und ihre Einschätzung sowohl durch die Ägypter selbst wie durch andere Kulturen wichtig ist.
 
Eine Wortlautschrift funktioniert auch ohne die realistische Bildhaftigkeit der Zeichen. Daher haben alle aus ursprünglichen Bilderschriften hervorgegangenen Wortlautschriften (wie das Chinesische und die Keilschrift) ihre Bildhaftigkeit abgestreift. Dasselbe gilt auch für eine Variante der Hieroglyphenschrift, das Hieratische. Diese Kursivschrift (eigentlich »laufende«, also fortlaufend geschriebene Schrift), die die Ägypter für Aufzeichnungen - mit einer Binse und Tinte - auf Papyrus und Topf- oder Kalksteinscherben benutzten, beweist, dass die Hieroglyphen als Schriftzeichen auch ohne ihre Bildhaftigkeit funktionieren. Trotzdem hielten die Ägypter neben der Kursivschrift an der Hieroglyphenschrift fest, die im Lauf ihrer mehrtausendjährigen Geschichte nichts an Bildhaftigkeit verlor. Diese Konstanz muss einen Grund haben. Offenbar hat der »Bildwert« der Zeichen doch eine Funktion, die nur vom Hieroglyphischen, nicht vom Hieratischen wahrgenommen wird. Es sind bei näherem Hinsehen sogar zwei Funktionen, die die Hieroglyphen nur durch ihren »Bildwert« und nicht durch ihren Wert als Laut-, Sinn- oder Wortzeichen erfüllen: Die eine kann man ihren »Kunstwert«, die andere ihren »Symbolwert« nennen. Während der Kunstwert ihre gesamte Geschichte bestimmt, kommt ihr Symbolwert erst in der Endphase zum Tragen und ist dann das einzige, was in der Erinnerung des Abendlandes von der Kenntnis der Hieroglyphenschrift übrig bleibt.
 
Der Kunstwert der Hieroglyphen ergibt sich aus ihrer Funktion als Inschriften- oder Denkmälerschrift. Die Hieroglyphen bildeten damit eine Gattung der Kunst, nicht der Schrift. Der Schreiber brauchte sie nicht zu lernen. Aktive Beherrschung der Hieroglyphenschrift wurde nur vom Künstler, insbesondere vom Vorzeichner gefordert. Die ägyptische Kunst ist in einem Ausmaß schriftbezogen, zu dem es in anderen Kulturen keine Parallele gibt. Zum einen sind so gut wie alle Denkmäler beschriftet; es gibt kaum ein Flach- oder Rundbild, das nicht irgendwo eine Inschrift aufweist. Zum anderen ist auch die Formensprache der Kunst so festgelegt, als handelte es sich um Schriftzeichen. Schrift und Kunst stehen sich also in Ägypten näher als anderswo und gehen oft geradezu ineinander über. Es gibt Bilder, die gelesen werden können, und es gibt Inschriften, die wie ein Bild komponiert sind.
 
Der Grund für diese Nähe ist, dass beide Medien im Rahmen ein und derselben Institution fungierten, die es so auch nur in Ägypten gab. Das ist der »monumentale Diskurs«. Mit den Monumenten sind Gräber wie Tempel gemeint und damit die Gesamtheit dessen, wofür die Ägypter die Hieroglyphenschrift verwendeten. Der Diskurs bezeichnet das Mittel der Kommunikation. Der »monumentale Diskurs« ist eine Zeichensprache im Dienst der Selbstverewigung, in der einzelne zur Nachwelt sprechen und im sozialen Gedächtnis fortdauern. Wegen dieser gedächtnisstiftenden Rolle der Hieroglyphen haben die Ägypter sowohl an der Form der Schriftzeichen wie an der Formensprache der Kunst nach Kräften festgehalten. So begründeten sie eine fünf Jahrtausende dauernde »Lesbarkeit« ihrer Kultur. Der Wunsch nach Fortdauer und Totengedächtnis fand seinen Ausdruck im »Diskurs der Monumente« und im Kanon ihrer Formensprache. Diese Elemente bildeten einen »heiligen Raum der Dauer«, in den sich jeder, der die Mittel dazu besaß, durch die Anlage eines Grabes, die Errichtung eines Denkmals und im Fall von Königen auch durch den Bau eines Tempels eingliedern konnte. Dieser Raum war »heilig«, weil er für die »Ewigkeit« bestimmt und gegenüber der Götterwelt öffentlich war (die Götter konnten in diesem Raum anwesend sein). Diese besondere Form der Öffentlichkeit bedingte zugleich seine Nichtöffentlichkeit für die Menschenwelt: Für die Allgemeinheit war der Raum verschlossen.
 
In diesen Zusammenhängen erklärt sich die Heiligkeit der Hieroglyphen. Sie galten als »Gottesworte«, als die Sprache und Schrift der Götter. Sie zu verändern, hätte ihre Lesbarkeit für die Götter aufs Spiel gesetzt. Das hatte der neuplatonische griechische Philosoph Iamblichos im Sinn, als er in seinem Buch über die Mysterien der Ägypter schrieb, dass sie ihre altehrwürdigen Gebetstexte wie »heilige Asyle« betrachteten und keinerlei Änderungen zuließen. Er begründete dies mit der Unveränderbarkeit der Götter. Das Heilige verändere sich nicht, also dürfe in den symbolischen Formen, die es vergegenwärtigten, keine Veränderung zugelassen werden.
 
Der Symbolwert der Hieroglyphen liegt auf einer ganz anderen Ebene. Er lässt erkennen, dass das mit Bildern arbeitende Schriftsystem eine gewisse »Offenheit« aufwies - es lässt sich ja alles abbilden, was Form und Gestalt hat -, sodass der Kanon der Zeichen durch Einführung einer beliebigen Menge neuer Zeichen gesprengt werden konnte. Bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. wurde dieses Verfahren nur in Ausnahmefällen zum Zweck einer ästhetischen Verfremdung angewendet. Die durch neue Zeichen verrätselte Schrift sollte zur Entzifferung anreizen. In der Spätzeit wurde jedoch die Ausnahme zur Norm. Der Zeichenbestand der Hieroglyphenschrift verzehnfachte sich in Richtung auf ein enzyklopädisches, allumfassendes Bildlexikon. Auch die Welt wurde als der Zeichenbestand einer göttlichen Urschrift verstanden. Ein Text, der als »Denkmal memphitischer Theologie« bekannt ist, lässt den Gott Ptah die Welt durch das Wort erschaffen, wobei er den Begriff »Gottesworte« benutzt, der ja »Hieroglyphen« bedeutet. Es war wiederum Iamblichos, der diese Wechselbeziehung von Schrift und Schöpfung erkannte. »Die Ägypter«, schreibt er, »ahmen die Natur des Universums und die Demiurgie der Götter nach, indem sie mithilfe von Symbolen Bilder der mystischen, unsichtbaren und geheimen Begriffe erzeugen, in derselben Weise, wie die Natur auf symbolische Weise die unsichtbaren Logoi in sichtbaren Formen ausdrückt und die göttliche Demiurgie die Wahrheit der Ideen in sichtbaren Bildern niederschreibt.«
 
Die Verfahren der Verrätselung hängen, wie schon erwähnt, an der Bildhaftigkeit der Hieroglyphen. Diese Bildhaftigkeit garantiert, dass sie immer erkennbar, wenn auch nicht ohne weiteres lesbar sind: erkennbar als Hinweise auf Dinge, die ihrerseits Hinweise auf Laute oder Bedeutungen geben. Die entsprechende Theorie hat der Ägypter Horapollon überliefert. Dieser griechische Text aus der Spätantike wird meist als ein bestenfalls fruchtbares Missverständnis abgetan, weil man ihn als eine Beschreibung des ägyptischen Schriftsystems schlechthin verstanden hat. Bei der von Horapollon angesprochenen Schrift handelt es sich aber nur um eine von mehreren ägyptischen Schriftvarianten, nämlich um die »symbolische Schrift«. Er bezieht sich also weder auf den Kanon der Hieroglyphenschrift noch auf die kursive hieratische Schrift noch auf die seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. benutzte, noch stärker abgeschliffene demotische Schrift, die »Volksschrift«. Die Lautbedeutungen interessieren hier nicht. Man sucht die über »Schriftspiele« erschlossenen Wirklichkeitsbezüge. Dieses Verfahren beruht jedoch durchaus auf ägyptischer Tradition. Die Hieroglyphen bezeichnen somit nicht nur einen Wortlaut, sondern enthalten ein Wissen über die Welt und die sie organisierenden Zusammenhänge. Sie galten daher den Ägyptern der Spätzeit nicht nur als Schriftsystem, sondern auch als eine Mnemotechnik, eine Kunst, die das kulturelle Gedächtnis bewahren und entsprechendes Wissen überliefern konnte.
 
Prof. Dr. Jan Assmann

Universal-Lexikon. 2012.

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